Warum die sogenannte Israelkritik historisch falsch und antisemitische Ideologie ist. Unser Redebeitrag zur Israel-solidarischen Kundgebung in Passau.
In den vergangenen Tagen gab es zweierlei Herangehensweisen, die Geschehnisse im Nahen Osten politisch zu deuten. Zum einen wurde der Angriff der Hamas als Katastrophe, welche in Kontinuität zum Nationalsozialismus und modernen Antisemitismus steht, gedeutet. Formeln wie „das größte Pogrom seit dem Holocaust“, „Israels 9/11“ und Vergleiche mit den Methoden der nationalsozialistischen „Einsatzgruppen“ und des Islamischen Staats verdeutlichen das. Dies ist die Herangehensweise, welcher wir uns als Veranstalter:innen dieser Kundgebung verpflichtet fühlen – unabhängig von politischer Gesinnung. Zum anderen wurde der Angriff als Revolution, als Auftakt eines Befreiungskampfes und politischer Widerstand verstanden. Schlagwörter wie „Ausbruch aus Gaza“ oder „Palästinas Unabhängigkeitskrieg“ illustrieren diese Seite. Dieser Beitrag bemüht sich um eine kurze historische Kontextualisierung des Konflikts zwischen Israel und Palästina, um zu entfalten, warum diese zweitgenannte Interpretation nicht nur falsch, sondern explizit antisemitisch ist.
Israel ist kein gestohlenes Land. Jüdinnen:Juden leben hier seit Jahrtausenden. Die britische Kolonialmacht versprach bereits in den 20er Jahren einen jüdischen und arabischen Staat, als sie das Gebiet nach dem ersten Weltkrieg besetzte. Im Angesicht scheiternder Assimilation und antisemitischer Gewalt im bürgerlichen Europa flohen viele Jüdinnen:Juden hierher. Nach dem Holocaust, 1948, stimmten die Zionist:innen einer zwei-Staatenlösung – dem „UN-Teilungsplan“ – zu, die Arabische Liga lehnte ab und versuchte den israelischen Staat militärisch zu verhindern. Im Zuge dessen behaupteten sich die Israelis. Hundertausende Palästinenser:innen mussten fliehen, währenddessen wurden nahezu alle Jüdinnen:Juden aus der islamischen Welt vertrieben. Jordanien und Ägypten besetzten die Gebiete, die Palästina versprochen waren. Diese Gebiete sind der heutige Gaza-Streifen und das Westjordanland. Eine rechtliche Gleichstellung erfuhren Palästinenser:innen von den arabischen Besatzern nicht. 1967, im Sechstagekrieg, eroberte Israel diese Gebiete sowie den Sinai und die Golan-Höhen, nachdem seine arabischen Nachbarstaaten versuchen wollten, den jüdischen Staat erneut auszulöschen. Seitdem kommt es hier, in den besetzten Gebieten, zum Siedlungsbau. In den Folgejahren schloss Israel Friedensverträge mit Ägypten und Jordanien, wobei Israel einwilligte, Ägypten den Sinai zurückzugeben und bereits errichtete Siedlungen wieder abzureißen. Währenddessen erstarkte im Westjordanland die PLO, eine sozialistische und nationalistische Vereinigung mit dem Ziel, Israel paramilitärisch zu bekämpfen und durch einen palästinensischen Staat zu ersetzen. Sie ist für zahlreiche Terroranschläge, vor allem im israelischen Kernland, bekannt, aber auch für das Olympia-Attentat in München oder die Flugzeugentführung von Entebbe. Nachdem die PLO ihr Machtzentrum in den Libanon verlagerte, besetzte Israel 1982 den Süden des Landes um die terroristischen Aktivitäten der PLO einzudämmen.
Hier können wir eine Verschiebung des Konflikts beobachten – weg von der Bipolarität, in der Israel dem Westen und die Arabische Liga dem Realsozialismus zugeneigt war, hin zu einem asymmetrischen Konflikt. War der Kalte Krieg noch geprägt von Kriegen zwischen Israel und seinen Nachbarn, ist es heute ein Konflikt zwischen israelischer Souveränität und islamistischen Banden. Als die PLO Ende der 80er Jahre erstmals Israel anerkannte, brach die sogenannte „Intifada“, eine gewaltsame Revolte gegen israelische Zivilist:innen, ausgehend von der palästinensischen Bevölkerung, aus. Stichwortgeber waren die Hamas, die, im Gegensatz zur säkularen PLO, islamistische Ziele verfolgen: Israel soll durch einen Gottesstaat ersetzt werden. Die Intifada wird durch die Gründung der „Palästinensischen Autonomiebehörde“, PNA, ein palästinensischer quasi-Staat, eingedämmt. Es entsteht eine Konkurrenz der Antisemiten um die Vorherrschaft: Die PLO unter Jassir Arafat verliert an Einfluss, und islamfaschistische Gruppen erstarken in den besetzten Gebieten – die sunnitische Hamas in Gaza, die schiitische Hisbollah im Süden Libanons. Nachdem die PLO mehrere Friedensangebote für eine Zwei-Staatenlösung in den 90er Jahren ausschlägt, bricht 2000 die zweite Intifada aus. Der 2005 vereinbarte Waffenstillstand besiegelt den Geländeverlust der PLO.
An dieser Verschiebung wird das Dilemma der israelischen Besatzungspolitik im 21. Jahrhundert deutlich. Zum einen hat der israelische Staat wenig Interesse daran, sich um Gaza, den Südlibanon und das Westjordanland zu kümmern. Zum anderen ist er befohlen, seine Bürger:innen, die sich aus diversen Gründen hier ansiedeln, zu schützen. 2000 zieht sich Israel aus dem Südlibanon zurück, sofort übernimmt die Hisbollah die de facto Macht und plagt Israels Norden seither mit Terroranschlägen. 2005 zieht sich Israel aus Gaza zurück, hierfür werden alle errichteten Siedlungen aufgegeben und Israelis gezwungen, ins Kernland zurückzuziehen. Bei den nachfolgenden Wahlen in Gaza wählen die Palästinenser:innen die Hamas, welche einen Bürgerkrieg gegen die PLO vom Zaun bricht und den Streifen ab 2007 alleine regiert. Seitdem regnet es Selbstmordattentate, Terroranschläge, Raketenangriffe und, seit fünf Tagen, einen Angriffskrieg auf Israel. Ein erneutes Friedensangebot 2008 schlug Mahmud Abbas, inzwischen Präsident der PLO im Westjordanland, erneut aus. Beide Fälle zeigen, dass ein Rückzug nicht Versöhnung fördert, sondern eine Raumnahme für noch schlimmere Kräfte, als die PLO eine ist, bewirkt. Israel ist in einer Sackgasse. Alle Friedensangebote wurden von palästinensischer Seite ausgeschlagen. Besatzung und Siedlungsbau sind mehr als bedenklich, aber alternativlos. Es bleibt die Perspektive, mit den sunnitischen Golfstaaten Frieden zu schließen, nachdem sich hier Unmut über das Ungeschick der Palästinenser:innen und ihr Bündnis zum schiitischen Iran ausgebreitet hat. Das ist auch eines der Ziele des Pogroms – Saudi Arabien vom Friedensschluss mit Israel abbringen.
Das ist natürlich stark abstrahiert und verkürzt, viele Sachen sind ausgelassen oder der Einfachheit halber abstrahiert und über einen Kamm geschoren. Ich möchte mit dieser Zusammenfassung aber zeigen, warum antiisraelische Aussagen von Kritik zu scheiden sind. Israel ist nicht der Dämon, den Marxisten-Leninisten, Neonazis, der ÖRR, die Süddeutsche Zeitung, Islamisten und Hippies heraufbeschwören, sondern ein jüdisches Selbstverteidigungsprojekt, dass sich seit seiner Gründung gegen ein Meer von Feinden behaupten musste. Wer soll Jüdinnen:Juden in unserer nun wahrlich beschissen eingerichteten Welt Sicherheit garantieren, wenn nicht ein industriell-kapitalistischer Nationalstaat mit Geheimdiensten und Streitkräften? Israel diese prekäre Lage zum Vorwurf zu machen ist keine Kritik, sondern Ideologie. Sie erfüllt die Funktion, eine hochkomplizierte Lage und ambivalente Situation zu rationalisieren, gerade bei Linken, die ja zu Recht Kritik an Staat und Kapital äußern. Und da wären wir beim Antisemitismus: Es ist das eine, die staatenlose Weltgesellschaft zu fordern, aber das andere, das Ausbleiben dieser Utopie „dem Juden unter den Staaten“ anzuhängen. Wer im Zuge dieser Rationalisierung blindes Morden, Vergewaltigungen und Entführungen toleriert, sorgt sich nicht um den Verein freier Menschen oder ein besseres Leben für Palästinenser:innen, sondern um das Ausleben eines Ressentiments. Wer gerade auf Seiten von Hamas, Hisbollah und Islamischem Djihad steht, ist nicht kommunistisch, liberal oder demokratisch, sondern ein nützlicher Idiot des Nationalsozialismus im 21. Jahrhundert. Wer die Rechte auf Unversehrtheit von Jüdinnen:Juden, sei es in Form von Israel oder als diasporische Weltgemeinde, nicht anerkennt, bemüht nicht Kritik oder Reflexion, sondern Antisemitismus.